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ROMANTRILOGIE / NOVEL TRILOGY »LIDIJAS NACHT« __back






FERTIGGESTELLT 2026





FINISHED IN 2026

 




Roland Stelter


LIDIJAS NACHT

Eine Geschichte aus Europa – zwischen Berlin, Moskau und Paris – St. Petersburg,Nizhnij Nowgorod, Minsk, Kyjiw, Tschernigiw, Amsterdam, Neapel, Stockholm, Wien und vielen weiteren Orten



ROMAN IN DREI BÄNDEN

mit einem Buch im Buch zu Russlands neuerer Geschichte
und einem Zitatenschatz zum Kommunismus



BAND I – ABSCHIED

Erster Teil



KAPITEL 1


Zwanzig Kopeken mit Schokolade, zehn Kopeken ohne. In der Hosentasche sechs, im Loch hinter Pawluschas Ohr – meinem süßen kleinen Teddybärchen – zweimal fünf... ergibt fünf und noch einmal fünf Finger, sind zehn Finger und noch einmal sechs, sind... elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn... sechzehn Kopeken! Fehlen also eins, zwei, drei... vier für Sahneeis mit Schokolade. Könnte mir aber ein Sahneeis ohne Schokolade... Hätte dann noch sechs Kopeken. Aber hinter Pawels Ohr müssen ja immer mindestens zehn sein. Mamutschka hat gesagt, man muss für schlechte Zeiten immer ‘was zurückgelegt haben!

Lidija schaute in den Himmel und rechnete. Ihre blauen Augen strahlten.

Damals, als kleines Mädchen, hatte sie oft stundenlang im Gras auf dem Hügel neben dem Schulgebäude gehockt und auf die strahlend weißen Wolken geschaut, auf all diese Bilder von Feen und Ungeheuern, Meeren und Tälern, auf diesen weiten, weiß-blau schimmernden Himmel, diesen unbezwingbaren Reichtum ihrer Heimat, den sie später so bitterlich vermissen sollte. An diesem Sommertag des Jahres 1982 jedoch erlaubte sie es sich nicht, ihre Gedanken mit den Wolken dahinschweben zu lassen. An diesem Sommertag, als hätte sie die Zukunft auf ihre kindliche Weise vorausahnen können, kalkulierte sie hart. Sie verfolgte ihre Gedanken so streng, dass sie nach einer Weile sogar von den Wolken abgelassen und auf einen im Sonnenlicht glitzernden Grashalm gestarrt hatte. Mit all der ihr zur Verfügung stehenden Bestimmtheit ihrer hellen Kinderstimme sprach sie zu dem Grashalm: „Wenn ich heute das Unkraut um die Tomaten auch hinter dem Haus jäte, obwohl das ja erst morgen dran ist, und wenn ich Mamutschka noch ein kleines Sträußchen Flieder mitbringe und dazu noch mein schönstes Lächeln, dann könnte ich versuchen, zehn Kopeken von Mama zu kriegen, wenn ich sage, dass ich zehn habe und von ihr noch zehn brauche, um ein Sahneeis mit Schokolade zu kaufen – schließlich kommt das Eis ja immer nur einmal in der Woche – wenn man Glück hat! Und dann könnte ich zum Konsum gehen, könnte mir ein Sahneeis ohne Schokolade kaufen, könnte mich hier mit meiner Maschinka treffen, könnte sie ’mal lecken lassen, könnte ganz in Ruhe mein Eis aufschlecken, hätte dann scheinbar zwanzig, in Wahrheit aber zehn Kopeken ausgegeben. Ich könnte zehn Kopeken hinter Pawels Ohr stecken und hätte – oh, schwierige, schwierige Rechnung! – vorher sechsundzwanzig, dann mit meinem Eis sechzehn und die zehn von Mama sind zusammen... eins, zwei, drei, vier, fünf Hände und ein Finger... gleich sechsundzwanzig, und dann wieder zwei Hände weg, sind sechzehn Kopeken, könnte also sechs Kopeken wieder in meine Tasche stecken und zehn Kopeken hinter Pawels Ohr. Also: Mamutschka würde sagen, ich hätte gut gerechnet. Denn am Ende hätte ich alle Kopeken wieder zurück und ein Eis, wenn auch eins ohne Schokolade. Mamutschka würde denken: Eines Tages wird auch ihre Liduschka, so wie Mama, eine strenge Buchhalterin von einer großen Kolchose sein!“

Stolz schaute sie in die Wolken. Schon aber zogen sich die launigen Watteflocken zu einem schwarzgrauen Tal zusammen. Ihre Gedanken verdunkelten sich und ihre Augenbrauen zogen sich in einer scharfen Falte zusammen.

Wenn meine Schwester Nadja mitkriegt, dass ich zehn Kopeken für ein Eis mit Schokolade will, dann wird sie bestimmt wieder sagen, dass das Eis früher höchstens einmal im Monat kam. Und dann wird Mama bestimmt sagen, dass ein Eis ohne Schokolade auch reicht, und dass man sich überhaupt bescheiden soll.

Ein Wind blies die düsteren Täler wieder auseinander. Die Wolken türmten sich zu kleinen Sahnehäubchen in dem leuchtend blauen Himmel auf. Lidija strahlte. Ihr rundes Gesichtchen erschien wieder so zart wie das eines Porzellanpüppchens und ihr fiel ein, dass Nadja heute ja schon ganz früh wieder mit dem Autobus nach Minsk gefahren ist. Da ist sie ja noch lange nicht zurück!

Schon aber zogen sich ihre Brauen erneut zusammen. Sie hatte sich an den düsteren Blick ihrer Mutter erinnert. Ihre Schwester hatte mit der Minsker Tante und deren Tochter das Haus schon wieder verlassen, und in Lidijas Ohr dröhnte noch immer das gepresste »P« von Pawel, dass die Mutter wie ausgespien hatte. Sie erinnerte sich so genau, weil »Pawluscha« ja der Name ihres Teddybären war. Ihr war klar: Mama mochte Pawel nicht. Sie selbst fand den neuen Freund ihrer Schwester aus Minsk eigentlich ganz lustig. Wenige Jahre später aber hatte sie den düsteren Blick ihrer Mutter verstanden. Da allerdings ging es schon lang nicht mehr um Kopeken.

Im November 1982 war der seit längerer Zeit schon senile Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew gestorben. Auf ihn waren der greise und schwer kranke Juri Andropow gefolgt, nach dessen Tod im Februar 1984, gut ein Jahr später, der ebenso greise und ebenso schwerkranke Konstantin Tschernenko. Im März 1985, ebenso rund ein Jahr später, war auch er verstorben. Die alten Männer des Politbüros, die sich um den Fortbestand ihres maroden Systems sorgten, sahen sich gezwungen, einen Jüngeren an die Macht zu bringen. Im März 1985 wählten sie einen Schützling Andropows zum Generalsekretär, den Reformer Michail Gorbatschow, und Lidija war bald zu einer erwachsenen Frau geworden. Mama war zu Babuschka geworden. Ihre Schwester war mit ihrer kleinen Tochter nach Minsk gezogen. Lidija war ihr gefolgt. Nun saß sie in ihrem Zimmer in Berlin und starrte auf ein riesiges Gemälde. ...

(Vorabauszug)